Der vorzeitige Mutterschutz und seine Freistellungsgründe
Es folgt ein Überblick, unter welchen Voraussetzungen für schwangere Arbeitnehmerinnen ein vorzeitiger Mutterschutz möglich ist.
Das absolute Beschäftigungsverbot im Mutterschutzgesetz bestimmt unter anderem, dass schwangere Arbeitnehmerinnen in den letzten acht Wochen vor dem mutmaßlichen Entbindungstermin keinesfalls mehr beschäftigt werden dürfen. Was aber gilt für schwangere Arbeitnehmerinnen, die bereits zu einem Zeitpunkt vor Beginn dieser Achtwochenfrist mit verschiedenen Schwangerschaftsbeschwerden oder besonderen Schwangerschaftsrisiken konfrontiert sind? Diesbezüglich regelt § 3 Absatz 3 Mutterschutzgesetz für schwangere Arbeitnehmerinnen unter der Voraussetzung, wonach bei einer Fortdauer ihrer Beschäftigung das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind gefährdet wären, ein individuelles Beschäftigungsverbot (auch genannt: „vorzeitiger Mutterschutz“). Und sind diese Voraussetzungen für ein individuelles Beschäftigungsverbot letztlich erfüllt, dürfen schwangere Arbeitnehmerinnen grundsätzlich schon vor Beginn der Achtwochenfrist nicht mehr arbeiten.
Ein Erlass des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 17.12.2010 gibt nähere Aufschlüsse darüber, wann sogenannte Freistellungsgründe für ein individuelles Beschäftigungsverbot von schwangeren Arbeitnehmerinnen bestehen können. Nach den Vorstellungen dieses Erlasses soll aus medizinischer Sachverständigensicht im Wesentlichen abgegrenzt werden, ob aufgrund des jeweiligen Zustands der werdenden Mutter eine dauerhafte Freistellung von der Arbeit geboten ist oder ob vielleicht eher ein vorübergehender Krankenstand zur Beherrschung der Situation angemessen erscheint. Damit sind hauptsächlich Zustände wie (i) Hyperemesis, (ii) Lumbalgie, (iii) Blutungen in der Frühgravidität oder (iv) Hypotonie mit Kollapsneigung prinzipiell noch nicht für eine dauerhafte Freistellung geeignet, weil diese Zustände im Normalfall keine Gefährdung für das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind bedeuten und solchen Beschwerden nach Möglichkeit mit einem zeitlich befristeten Krankenstand abgeholfen werden kann. Auch der Umstand, dass die werdende Mutter vielleicht bereits über 35 Jahre alt ist und daher als eine ältere Schwangere gilt, führt nicht automatisch zu einer vorzeitigen dauerhaften Freistellung von der Arbeit im Rahmen des individuellen Beschäftigungsverbots.
Hinsichtlich tauglicher Freistellungsgründe für ein individuelles Beschäftigungsverbot einer schwangeren Arbeitnehmerin zählt der Erlass demonstrativ verschiedene medizinische Zustände auf. Dabei geht es um folgende 18. Beispiele: (i) Anämie mit Hämoglobin im Blut < 8.5 g/dl mit zusätzlicher kardiopulmonaler Symptomatik, (ii) Auffälligkeiten im pränatalen Ultraschall mit drohendem Risiko einer Frühgeburt unter laufender Therapie (zum Beispiel: Polyhydramnion), (iii) belastete Anamnese mit status post spontanem Spätabort oder Frühgeburt eines Einlings (16. bis 36. Schwangerschaftswoche), (iv) insulinpflichtiger Diabetes Mellitus (IDDM), wenn schwer einstellbar, (v) kongenitale Fehlbildungen, (vi) Mehrlinge, (vii) organtransplantierte (zum Beispiel: Niere, Herz) Schwangere (hohe Rate an Frühgeburtlichkeit, Wachstumsretardierung und mütterlicher Morbidität), (viii) Plazenta praevia totalis beziehungsweise partialis ab 20. Schwangerschaftswoche, (ix) Präeklampsie, E-P-H-Gestose, (x) sonographisch bewiesene subamniale oder subplazentare Einblutungszonen (Hämatome) mit klinischer Symptomatik, (xi) status post Konisation, (xii) thromboembolische Geschehen in der laufenden Schwangerschaft, (xiii) Uterusfehlbildungen, (xiv) Verdacht auf Plazenta increta/percreta inklusive Narbeninvasion ab 20. Schwangerschaftswoche, (xv) vorzeitige Wehen bei Zustand nach Tokolyse im Krankenhaus, (xvi) Wachstumsretardierung mit nachgewiesener Mangelversorgung des Feten, (xvii) Zervixinsuffizienz: Zervixlänge unter 25 mm Länge und/oder Cerclage in laufender Schwangerschaft oder (xviii) Grunderkrankungen der Schwangeren (internistischer, pulmologischer, neurologischer, psychiatrischer Art) mit einer Gefährdung für Mutter oder Kind.
Diese vom Erlass genannten Freistellungsgründe für ein individuelles Beschäftigungsverbot sind nicht als eine abschließende Aufzählung der möglichen Freistellungsgründe zu verstehen. Liegt bei einer schwangeren Arbeitnehmerin daher ein anderer Zustand vor, der nicht von den beispielhaften Freistellungsgründen erfasst wird, ist ein individuelles Beschäftigungsverbot somit keinesfalls ausgeschlossen. Allerdings ist dann nach den Umständen des Einzelfalls zu entscheiden, ob und weshalb ein individuelles Beschäftigungsverbot für die werdende Mutter in Betracht kommt. Im Übrigen kann ein individuelles Beschäftigungsverbot in jedem zeitlichen Stadium einer Schwangerschaft und auch bereits im Stadium einer Frühschwangerschaft verordnet werden. Soll das individuelle Beschäftigungsverbot jedoch zu einem Zeitpunkt vor dem Ende der 15. Schwangerschaftswoche erfolgen, ist eine gesonderte medizinische Begründung für den diesbezüglich noch einmal vorgezogenen Beginn des individuellen Beschäftigungsverbots erforderlich.
Zum Verfahrensverlauf: Für die Ausstellung eines Freistellungszeugnisses ist der Amtsarzt im Bereich des Wohnsitzes der schwangeren Arbeitnehmerin oder der Arbeitsinspektionsarzt im Bereich der Betriebsstätte des Arbeitgebers zuständig. Beim Termin mit dem Amtsarzt oder Arbeitsinspektionsarzt muss die schwangere Arbeitnehmerin einen fachärztlichen Befund, ein fachärztliches Gutachten oder andere Unterlagen vorlegen, aus denen sich jeweils die medizinischen Freistellungsgründe in eindeutiger und nachvollziehbarer Form ergeben. Eine eigene Untersuchung der schwangeren Arbeitnehmerin durch den Amtsarzt oder den Arbeitsinspektionsarzt ist für die Ausstellung eines Freistellungszeugnisses nicht vorgesehen; die Beurteilung des Freistellungsgrunds erfolgt anhand einer Überprüfung der medizinischen Unterlagen sowie anhand der Angaben der schwangeren Arbeitnehmerin in einem persönlichen ärztlichen Gespräch. Das üblicherweise sofort beim Termin ausgestellte Freistellungszeugnis dient in weiterer Folge insbesondere zur Mitteilung des individuellen Beschäftigungsverbots an den Arbeitgeber sowie zur Vorlage an die Krankenkasse für die allfällige Zuerkennung von Wochengeld.
Anmerkung: Gibt es für die schwangere Arbeitnehmerin oder das Kind deshalb besondere Gesundheitsrisiken, weil die schwangere Arbeitnehmerin etwa mit körperlich schweren Arbeitstätigkeiten beschäftigt oder weil die schwangere Arbeitnehmerin bei ihren Arbeitstätigkeiten besonderen Unfallgefahren ausgesetzt ist, wird ein solcher Fall nach dem abstrakten Beschäftigungsverbot gemäß § 4 Mutterschutzgesetz beurteilt. Aber das abstrakte Beschäftigungsverbot ist wieder ein anderes Thema mit anderen Rechtsfolgen, weil dort die Gründe für das Beschäftigungsverbot nicht im besonderen Zustand der schwangeren Arbeitnehmerin selbst liegen, sondern sich aus den jeweiligen Arbeitstätigkeiten oder dem Arbeitsumfeld ergeben.
Zusammenfassung: Das Mutterschutzgesetz verbietet mit dem absoluten Beschäftigungsverbot ganz allgemein die Beschäftigung schwangerer Arbeitnehmerinnen ab einem Zeitpunkt von acht Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin. Treten bei einer schwangeren Arbeitnehmerin schon vor Beginn der Achtwochenfrist Schwangerschaftsbeschwerden oder Schwangerschaftsrisiken auf, kann für die schwangere Arbeitnehmerin ein individuelles Beschäftigungsverbot gelten. Ein solches individuelles Beschäftigungsverbot ist für eine schwangere Arbeitnehmerin in jedem zeitlichen Stadium ihrer Schwangerschaft denkbar, wobei die einzelnen Voraussetzungen von medizinischen Gründen abhängen. Als juristisch vorgegebene Richtschnur zur medizinischen Beurteilung gilt im Wesentlichen, dass ein höheres Alter der werdenden Mutter oder typische mit der Schwangerschaft verbundene Indikationen wie Erbrechen, Kreuzschmerzen, Kopfschmerzen und niedriger Blutdruck mit Schwindel für sich alleine noch kein individuelles Beschäftigungsverbot rechtfertigen sollen. Vielmehr muss ein individuelles Beschäftigungsverbot von solchen darüberhinausgehenden Gründen abhängen, die ihrem Wesen nach eine spezifische Gefährdung für die Gesundheit oder das Leben von Mutter oder Kind befürchten lassen. Die jeweilige Entscheidung über diese nicht immer so einfachen medizinischen Sachverständigenfragen obliegt den behandelnden Ärzten der schwangeren Arbeitnehmerin, deren Ansicht schließlich vom Amtsarzt oder Arbeitsinspektionsarzt zu bestätigen ist. Das Auge des Gesetzes will also über den mit dem individuellen Beschäftigungsverbot verbundenen vorzeitigen Mutterschutz wachen. Denn bei Ausspruch eines individuellen Beschäftigungsverbots wird zumeist die Krankenkasse – sofern die übrigen sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind – in Form des Wochengeldes für die Einkommensverluste der Arbeitnehmerin aufkommen.
Siehe dazu insbesondere:
- § 3 Absatz 3 Mutterschutzgesetz.
- § 4 Mutterschutzgesetz.
- Erlass BMASK vom 17.12.2010, BMASK-462.310/0012-VII/A/4/2010.