Der „abgewatschte“ Lehrling

In der täglichen Arbeit stößt man immer wieder zufällig auf Gerichtsentscheidungen aus längst vergangener Zeit. So zum Beispiel auf ein Urteil des…

In der täglichen Arbeit stößt man immer wieder zufällig auf Gerichtsentscheidungen aus längst vergangener Zeit. So zum Beispiel auf ein Urteil des Arbeitsgerichts Innsbruck vom 23.11.1954 zur Geschäftszahl Cr 199/54 (veröffentlicht in Arb 6128). Der aus heutiger Sicht wohl etwas verwunderlich anmutende Leitsatz dieser Gerichtsentscheidung aus dem Jahr 1954 lautete: „Eine bei der körperlichen Züchtigung des Lehrlings vorgefallene Misshandlung berechtigt diesen zur vorzeitigen Auflösung des Lehrverhältnisses. Die Einwendung des Lehrherrn, die Eltern des Lehrlings seien mit dieser Art der Erziehung einverstanden gewesen, ist unbeachtlich.“

Worum ging es in diesem Gerichtsverfahren? Ein Karosseriebaulehrling brachte im Wesentlichen vor, dass er zur sofortigen Auflösung des Lehrverhältnisses berechtigt gewesen wäre, weil der Lehrherr ihn unter anderem kräftig geohrfeigt und an den Haaren gerissen hätte. Diesbezüglich hielt ein kurz nach dem Vorfall erstelltes ärztliches Polizeigutachten beim Lehrling auch eine deutliche diffuse Rötung der ganzen linken Gesichtshälfte, eine zackenförmige Verletzung der Mundschleimhaut und Blutkrusten im Bereich des linken Naseneingangs fest. Der Lehrherr bestritt die körperlichen Züchtigungen in ihrem Kern gar nicht, wandte sinngemäß und zusammengefasst aber ein, dass die Züchtigungen aufgrund eines kritikwürdigen Verhaltens des Lehrlings berechtigt gewesen wären und die Eltern des Lehrlings ihn außerdem darum ersucht hätten, den Lehrling streng zu halten und nötigenfalls „abzuwatschen“. Diese Verteidigungsargumentation des Lehrherrn ließ das Arbeitsgericht Innsbruck jedoch nicht gelten. Denn im konkreten Fall waren die beim Lehrling festgestellten Verletzungen derart gewesen, dass sie nur als Missbrauch des Rechts väterlicher Züchtigung gemäß des damals geltenden § 101 Absatz 2b Gewerbeordnung bezeichnet werden konnten und der Lehrling bei einem weiteren Verbleib im Betrieb mit weiteren Schäden für seine Gesundheit rechnen musste. Damit sah das Arbeitsgericht Innsbruck auch den vom Lehrherrn vorgebrachten Einwand, die Eltern wären mit seiner Art der Erziehung einverstanden gewesen, als bedeutungslos an. Zusammengefasst: Die sofortige Auflösung des Lehrverhältnisses durch den Lehrling infolge der vom Lehrherrn ausgehenden Misshandlungen war gerechtfertigt.

Und heute? In der Zwischenzeit sind die Rechte und Pflichten zwischen dem Lehrling und dem Lehrberechtigten im Berufsausbildungsgesetz geregelt. Dort bestimmt § 9 Absatz 3, dass der Lehrberechtigte den Lehrling weder misshandeln noch körperlich züchtigen darf und den Lehrling weiters auch vor Misshandlungen oder körperlichen Züchtigungen durch andere Personen zu schützen hat. Demgegenüber sah im Jahr 1954 der einschlägige § 101 Absatz 2b Gewerbeordnung bloß vor, dass der Lehrherr das im Einzelfall auslegungsbedürftige „Recht der väterlichen Zucht“ nicht missbrauchen durfte. Die heutigen Zeiten haben sich für Lehrlinge im Vergleich zum Jahr 1954 also positiv geändert.

Siehe dazu:

  • ArbG Innsbruck 23.11.1954, Cr 199/54, Arb 6128.